Hauptinhalt

Renaissance einer Medizinalpflanze

Die einen verteufeln ihn als Rauschdroge, die anderen loben ihn als wirksame Medizin: den Hanf. Obwohl sich einiges bewegt hat, haftet Cannabis noch immer ein Stigma an. Davon liess sich Apotheker Manfred Fankhauser aber nicht irritieren. Seit vielen Jahren setzt er sich für die Rehabilitierung dieser Heilpflanze ein. 

Cannabis hat im Vergleich zu anderen Medikamenten ein breites Wirkungsspektrum. Die Hanfpflanze deshalb als Wundermittel zu bezeichnen, ist gewagt, aber immer wieder zu hören. Apotheker Manfred Fankhauser widmet sich seit gut dreissig Jahren dieser Pflanze, die zu Unrecht verpönt und zu Unrecht glorifiziert wird.

Cannabis war nicht seine erste Pflanzenliebe. Auf die Frage, welche Pflanze ihn von klein auf beeindruckt habe, erinnert er sich an einen Besuch seiner ehemaligen Primarlehrerin vor gut zehn Jahren. Beim Aufräumen hatte sie ein Blatt von ihm gefunden. Darauf waren die Flugschirmchen einer Löwenzahnblüte aufgeklebt: «Der Löwenzahn hat genau 234 Laternli», hatte der 7-Jährige darunter mit einer Akribie notiert, welche die Lehrerin so beeindruckt hat, dass sie das Blatt aufbewahrte. Fünfzehn Jahre später – nach Handelsschule, KV-Ausbildung und Matura – entschloss sich Fankhauser zum Pharmaziestudium. Neugierig darauf war er durch seine damalige Freundin und heutige Ehefrau geworden, die selber Drogistin ist. Zusammen mit ihr übernahm er schon während des Studiums die Bahnhof Apotheke in Langnau im Emmental. Nach dem Abschluss im Jahr 1991 hätte Fankhauser Vollzeit einsteigen können. Da er sich der Verantwortung noch nicht gewachsen fühlte, entschied er sich, berufsbegleitend eine Dissertation anzuhängen. Auf Empfehlung erfuhr er von Prof. Dr. François Ledermann, der an der Universität Bern im Bereich Pharmaziegeschichte forschte. Als er ihn traf, sagte Fankhauser:

«Am liebsten würde ich über eine Gift- oder Rauschpflanze schreiben.»

So kam es, dass er zu einer Zeit über Cannabis doktorierte, als zwar vielerorts ihre Blüten geraucht wurden, die Pflanze aber für medizinische Zwecke gänzlich in Vergessenheit geraten war. Thema der Doktorarbeit: Die Geschichte von Cannabis als Medikament.

Zwischen Rausch und Medizin

Hanf ist eine der ältesten Nutzpflanzen der Erde. In China wurden archäologische Funde von Fasern auf 8500 Jahre geschätzt. Der griechische Arzt Galen im 2. Jahrhundert n. Chr. beschrieb, dass man Gästen Hanfsamen beziehungsweise -blüten und Haschischkuchen anbot – beides sorgte für ausgelassene Stimmung und regte den Appetit auf Wein an. Medizinische Bedeutung gewann die Pflanze in Europa erst Mitte des 19. Jahrhunderts. Haschisch wurde vor allem bei Schmerzen wie Migräne, bei Keuchhusten und Asthma sowie als Schlaf- und Beruhigungsmittel verwendet. Zwischen 1880 und 1920 erlebte die medizinische Anwendung aufgrund des breiten Wirkungsspektrums sogar eine Hochblüte. Danach wurde es um die Hanfpflanze mit dem botanischen Artnamen Cannabis sativa ruhig. Andere spezifisch wirkende Medikamente lösten die Pflanzenmedizin ab. Erst durch die Hippie-Bewegung in den 1960er-Jahren wurde Hanf wiederentdeckt – als Rauschdroge. Von Reisen aus Indien brachten Menschen die eher euphorisierende Art Cannabis indica mit. Leichter zugänglich und günstiger als zum Beispiel LSD, war Cannabis zudem harmloser in seiner Wirkung. Jedenfalls zu jener Zeit, erklärt Fankhauser den beachtlichen Unterschied:

«Ein Joint von damals hatte einen durchschnittlichen THC-Gehalt von 5 %. Heute gibt es Züchtungen, die 25 % des berauschenden Cannabinoids enthalten.»

Mit dem Sog mitschwimmen

Für die berauschende Wirkung der Hanfpflanze ist das Cannabinoid THC verantwortlich, eine chemische Verbindung, die bereits 1942 isoliert wurde. Wie dieser Stoff wirkt, weiss man aber erst seit Anfang der 1990er-Jahre. Damals entdeckten Wissenschaftler*innen, dass sich THC an einen bestimmten Rezeptor im Gehirn binden kann, ebenso wie CBD, das zweitwichtigste von rund 100 verschiedenen Cannabinoiden, die nur im Hanf vorkommen. Da diese Stoffe an der Regulation physiologischer Prozesse wie der körpereigenen Schmerzhemmung beteiligt sind, löste die Entdeckung dieser Zusammenhänge einen regelrechten Forschungsboom aus. Und mittendrin befand sich Doktorand Fankhauser:

«Die Renaissance von Cannabis war ein aussergewöhnliches Ereignis. Dass in der Medizin ein populärer Stoff verschwindet und plötzlich wieder auftaucht, kommt so gut wie nie vor. Meist ist dieser Stoff dann nicht mehr gebräuchlich, hat zu viele Nebenwirkungen oder wurde durch bessere Medikamente ersetzt.»

Mythos und Realität

Um einen Stoff, der von manchen als Wundermittel propagiert wird, ranken sich verständlicherweise auch Legenden. In der Diskussion um Cannabis gibt es zwei Pole: «Während es die einen komplett verharmlosen, verteufeln es die anderen», sagt Fankhauser. Überraschen mag, dass es bei natürlichem Cannabis keine tödliche Dosis gibt. Das sei bei Stoffen, die so stark wirken, eine Seltenheit. Verharmlosen möchte es der Apotheker aber dennoch nicht. In Aufklärungsstunden an Schulen informiert er zum Beispiel darüber, welche Auswirkungen der sogenannte rekreative Konsum bei Jugendlichen haben kann: Da die Gehirnentwicklung noch nicht abgeschlossen ist, werden die Nervenzellen beeinträchtigt, insbesondere im Angstzentrum. Die Gefahr, später eine Depression oder Psychose zu entwickeln, ist dadurch stark erhöht. Zu bedenken sei auch, dass die «Kiffer-Dosis» aus medizinischer Sicht eine Überdosierung ist. Patientinnen und Patienten, die ärztlich Cannabis verschrieben bekommen, erhalten eine viel geringere Dosis. Im Rahmen seiner Aufklärungsarbeit berichtet Fankhauser auch darüber, dass nicht die Substanz selbst der Antrieb ist, andere Drogen auszuprobieren. Cannabis-Konsum führe nicht unweigerlich zu härteren Drogen: «Studien haben belegt, dass vielmehr das damit verbundene Umfeld, der Gruppendruck, dazu führen kann.»

Vom Stigma befreien

Obwohl Cannabis-Produkte kaum Nebenwirkungen haben, hat die Hanfpflanze einen schlechten Ruf: «In jeder Apotheke werden rezeptfreie Medikamente verkauft, die in puncto Nebenwirkungen weitaus problematischer sind», gibt Fankhauser zu bedenken. Doch die Gesetzeslage hat es über Jahrzehnte verunmöglicht, legal mit Cannabis-Produkten zu arbeiten. Mit dem internationalen Einheitsabkommen über Betäubungsmittel wurde Cannabis 1961 weltweit verboten. Danach durfte nur noch zu medizinischen Zwecken geforscht werden. Doch wer mag forschen, wenn er keine Aussicht darauf hat, daraus jemals ein verkaufsfähiges Produkt entwickeln zu können? Dank seiner Doktorarbeit hatte sich Fankhauser bald als Fachperson etabliert. Bei Vorträgen vor Selbsthilfegruppen stellte er immer wieder fest, dass Cannabis trotz des Verbots als Heilmittel genutzt wird. Er fragte sich «wie könnten wir es schaffen, diesen Patientinnen und Patienten Cannabis legal zu verschreiben?» 2007 ging er auf das Bundesamt für Gesundheit (BAG) zu, um dort seine Idee zu präsentieren: Da die Gewinnung von THC aus Hanf verboten war, wollte er es synthetisch herstellen, und zwar auf Basis von Zitronenschalen und Flechtenbestandteilen. Nach einer juristischen Abklärung und einem Gutachten der Universität Bern wurde schliesslich der Startschuss gegeben: Es durften Präparate mit reinem THC hergestellt und von Ärztinnen und Ärzten verschrieben werden. Eine Gesetzeslücke hatte es möglich gemacht.
 

Der letzte Ausweg

Cannabis ist selten das erste Mittel der Wahl. Meistens wagen Menschen erst nach jahrelanger Odyssee einen Versuch. Fankhauser weiss von zweien zu berichten, die aufgrund extremer chronischer Schmerzen bereits einen Termin bei einer Sterbehilfeorganisation hatten. Da der betreuende Arzt noch nicht aufgeben wollte, empfahl er beiden, ein Cannabis-Präparat mit THC zu testen. Mit Erfolg! Die Patienten sind zwar nicht gänzlich schmerzfrei, aber das Leben erscheint ihnen wieder lebenswert.

Schmerztherapie ist ein möglicher Bereich der Anwendung. Das Wirkungsspektrum von Cannabis ist aber breiter. THC kann auch appetitanregend sein, gegen Übelkeit und Erbrechen helfen und wird von einigen Ärztinnen und Ärzten auch bei Tourette-Tics und gegen Grünen Star verschrieben, um nur einige Indikationen zu nennen. CBD wird unter anderem bei Epilepsie eingesetzt, kann entzündungshemmend, entspannend sowie angst- und krampflösend sein. In der Kinderheilkunde wurden auch Erfolge bei ADHS beobachtet. Im Unterschied zu THC berauscht CBD nicht. Im Gegenteil. In Kombi-Präparaten mildert es sogar die euphorisierende Wirkung des THC. Fankhauser weiss, dass es für jede Indikation schon bewährte klassische, zugelassene Medikamente gibt. Und doch betrachtet er Cannabis als wertvolle Ergänzung, zumal er für keine anderen Medikamente persönliche Dankesbriefe erhält.

Text: Carmen Hocker